«Die weltweite Armut hat mich zornig gemacht»

Marc Jost zu seinem Engagement bei «Interaction» und zur wirkungsvollen Entwicklungshilfe

Weltweit hungern eine Milliarde Menschen. Als neuer Geschäftsführer des Hilfswerkverbandes «Interaction» möchte der Thuner Pfarrer und Grossrat Marc Jost gerade Politikern den Ernst der Lage bewusst machen. Aber auch den vielen Mitchristen. Und er möchte aufzeigen, welche Hilfe effektiv Wirkung erzielt.

VON: ANDREA VONLANTHEN

«Spektrum»: Als was sind Sie eigentlich geboren, als Pfarrer, als Politiker oder als Entwicklungshelfer?

Marc Jost: Die drei Ämter haben sehr vieles gemeinsam. Es geht immer um den Menschen und seine Bedürfnisse. Mir ist es ein Anliegen, dem Einzelnen ganzheitlich zu helfen. Das kann ich in der Politik kombiniert mit «Interaction» nun sehr gut tun.

Wovon hatten Sie einst mit sieben Jahren geträumt?

Ich wollte Zimmermann werden. Mit Holz gestalten, das hat mich fasziniert.

Und mit zwanzig?

Damals hat mich ein Jugendleiter ermutigt, vermehrt Führungsverantwortung zu übernehmen. Er hatte den Eindruck, Gott möchte mich für eine grössere Verantwortung vorbereiten. Darauf habe ich mich entschieden, Gott verfügbar zu sein, was mich Schritt für Schritt in neue Leitungsverantwortung geführt hat. Mein Traum ist, dort Verantwortung zu tragen, wo Gott dies möchte.

Am 1. Oktober haben Sie Ihre Stelle als Geschäftsführer bei «Interaction» angetreten. Das Evangelische Gemeinschaftswerk verliert in Thun einen begabten Prediger?

Der Abschied schmerzt schon auch. Meine Frau und ich, wir haben uns für den Wechsel entschieden, weil die Anfrage des Verbandes genau in dem Zeitpunkt kam, als wir uns fragten, ob ich noch am richtigen Ort wirke. Bill Hybels schreibt in einem Buch, dass Gott uns oft dort einsetzen möchte, wo uns eine Not am meisten drückt. Er spricht sogar davon, dass uns etwas zornig machen kann. Das ist bei mir mit der weltweiten Armut passiert.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Ihnen die Augen für die Armut öffnete?

Ein Schlüssel war unsere Zeit 2001 und 2002 als Ehepaar in Südamerika. In Peru war es die Armut der Menschen, die uns bewegte, und in Kolumbien war es das Chaos in einem total korrupten und gewaltbeherrschten Staat. Dort gingen uns die Augen auf, was für ein Privileg es ist, in der Schweiz geboren worden zu sein. Diese Erfahrung der Gnade, in einer funktionierenden Demokratie, einem Rechtsstaat und in Wohlstand leben zu dürfen, hat mich letztlich auch für die Schweiz politisiert.

Was wollen Sie nun erreichen mit «Interaction»?

Der Verband will gegen innen mit der Kampagne «StopArmut 2015» das Anliegen der Entwicklungszusammenarbeit unter den 250'000 Christen im Umfeld der Evangelischen Allianz bekannt machen und für die Milleniumsziele sensibilisieren. Gegen aussen wollen wir als christliche Hilfswerke im Rahmen der SEA mit einer Stimme bei Entscheidungsträgern lobbyieren und die Qualität unserer Arbeit bei öffentlichen Stellen transparent machen.

Wird «Interaction» zur frommen Konkurrenz von «Brot für alle» und «Fastenopfer»?

Ein Verband, der sich echt und von Herzen für die Ärmsten einsetzt, wird sich über mehr Engagement durch andere freuen und mit ihnen zusammenarbeiten!

Wir werden im Westen immer reicher - warum bekommt die Welt das Problem mit der Armut nicht in Griff?

Als Pfarrer sage ich: Das hat mit dem Herzen des Menschen zu tun. Wir haben Angst, zu kurz zu kommen und müssen uns zum Teilen überwinden, geschweige denn zum Verzichten. Als Politiker sage ich: Das Problem ist die Verbindung von Geld und politischer Macht. Reiche Interessengruppen haben mehr Mittel für Wahlkampf und entsprechend mehr politischen Einfluss, sei es national oder international. Als CEO von «Interaction» sage ich: Die Politik hat den Ernst der Lage von einer Milliarde Hungernder noch nicht erkannt. Migration und die Schwierigkeiten daraus in den Industrieländern sind nur eine direkte Konsequenz der ungerechten Verteilung der Güter.

In der Politik wird zunehmend vor fragwürdiger Entwicklungshilfe gewarnt. Viel Geld lande nur im Sumpf der Korruption...

Das ist ein ernsthaftes Problem. Gleichzeitig hat man diese Herausforderung erkannt und gepackt. Viele Hilfswerke arbeiten nicht direkt mit Regierungen zusammen, sondern mit NGOs vor Ort. Aber letztlich bleibt die Frage: Soll man Menschen keine Nothilfe leisten, bloss weil sie von einem Tyrannen regiert werden?

Woran erkennt der Spender das seriöse, unterstützungswürdige Hilfswerk?

Vorab: Kleiner und bekannter heisst nicht immer besser! Das Verhältnis von Verwaltung und konkreter Hilfeleistung nimmt zum Beispiel ab, je grösser ein Werk ist. Aber grosse Werke brauchen dafür mehr Controlling. Für den Spender sind Labels wie der Ehrenkodex der SEA oder das Gütesiegel von Zewo so oder so eine Hilfe und Gewähr für seriöse Arbeit.

Welche Hilfe erzielt Wirkung?

Ich denke an Projekte, die einen partizipativen Ansatz haben, lokal verwurzelt und ganzheitlich sind, sprich: auch Spiritualität einbeziehen. Das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe sowie das partnerschaftliche Miteinander sind zentral. Mikrokredite beispielsweise verkörpern vieles davon.

Wie lässt sich diese Wirkung kompetent prüfen?

Die Wirkung der Nothilfe ist ziemlich offensichtlich. Jeder Überlebende ist ein lebendiger Beweis der Wirkung! Aber gerade weil es um Leben und Tod geht, ist eine gute Evaluation von grosser Bedeutung. Bei der Entwicklungszusammenarbeit ist es sehr anspruchsvoll. Eine Hilfe ist gewiss die Orientierung an den Milleniums-Entwicklungszielen der UNO in Bildung, Landwirtschaft oder Gesundheit. Dann gibt es natürlich Wirkungsberichte, die den Input, den Output und die sogenannten Outcomes (mittelfristige Wirkungen) oder den Impakt (langfristige Wirkungen) messen. Die unzähligen externen Faktoren, die teilweise nicht im Einflussbereich eines Projekts liegen, machen aber eine exakte Wirkungsmessung schwierig.

Welche Hilfe tut besonders Not?

Neben der Tatsache, dass über eine Milliarde Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, ist gewiss die HIV/Aids-Problematik in Afrika eine der ganz grossen Nöte, die auch viele Kinder betrifft. 2010 wird es 20 Millionen neue Aids-Waisen geben, davon 18 Millionen in Afrika!

Was bezahlt heute der Staat und was bezahlen Private an Schweizer Entwicklungshilfe?

Der Bund setzt heute rund 0,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) ein. Die privaten Spenden machen etwa 0,1 Prozent des BNE aus. Damit sind wir immer noch deutlich unter den der UNO zugesagten 0,7 Prozent, welche die öffentliche Hilfe ausmachen sollte. Immerhin hat das Parlament nun Signale in Richtung 0,5 Prozent gegeben. Das würde momentan 350 Franken pro Schweizer ausmachen.

Welches müsste das Ziel staatlicher und privater Hilfe sein?

Es muss eindeutig darum gehen, den von der Menschheit selber gemachten Missstand, dass zwar genügend Nahrung da wäre, die aber ungerecht verteilt ist, zu korrigieren. «StopArmut» und die UNO sagen: Bis 2015 soll die Armut halbiert werden. Ein sehr hohes Ziel!

Sie stehen seit vier Jahren als Grossrat mit einem Bein in der Politik. Wie haben sich die Kanzel und der politische Alltag miteinander vertragen?

Besser als ich zuvor angenommen hatte. Für mich war allerdings Parteipolitik von der Kanzel ein Tabu. Vielleicht war bei uns die ganze politische Frage fast besser geklärt als anderswo, wo sich die Pastoren zwar kein politisches Etikett angeheftet haben, aber ihre Meinung umso mehr unterschwellig einbringen. Auch Seelsorge am politischen Gegner wurde für mich nicht zum Problem. Wichtig dabei ist Transparenz, Sachlichkeit und Vertrauen.

Nun suchen Sie neben Ihrem Grossratsmandat ein neues politisches Engagement in Ihrer Stadt, indem Sie für den Gemeinderat kandidieren. Warum streben Sie gerade das Sozialressort an?

Ich habe als Pfarrer in diesem Bereich reiche Erfahrungen sammeln können. Andererseits könnte ich als Sozialvorsteher Behörden, Kirchen und private Institutionen in ihrer Zusammenarbeit fördern. Ich könnte mir aber als ehemaliger Lehrer auch das Ressort Bildung vorstellen.

Wie stehen Ihre Wahlchancen?

Sie sind intakt. Die Listenverbindung von EVP, EDU und CVP könnte bei den Proporzwahlen in die Exekutive tatsächlich ein Mandat holen. Allerdings haben neben mir drei weitere Kandidaten der christlichen Parteien Ambitionen.

Grossrat, Gemeinderat, Entwicklungshelfer, Familienvater: Keine Angst vor grösseren Zielkonflikten?

Sollte ich tatsächlich Gemeinderat werden, würde ich im Grossen Rat den Sitz in der Justizkommission aufgeben. Aber man darf nicht vergessen, dass sich Politik und Lobbyarbeit für die Ärmsten auch ein Stück weit ergänzen.

Ihre Vision für Ihr Leben?

«Keep doing your best and pray that it?s blessed. And the Lord takes care of the rest.» Was Gott in mich gelegt hat, soll möglichst wirkungsvoll anderen Menschen zu gut kommen.

Ihre Vision für die Schweiz?

Zurück zu den Wurzeln! Henry Dunants Vision mit dem Roten Kreuz sollte die Schweiz wieder ähnlich ganzheitlich erfassen wie in den Anfängen. Nicht nur unser Staatssystem darf man ruhig kopieren, auch unser Wohlstand darf anderen Ländern zu gut kommen. Und schliesslich wurde auch das Kreuz nicht zufällig als Symbol der barmherzigen Hilfe gewählt.

Worüber haben Sie jetzt bei Ihrem Abschiedsgottesdienst gepredigt?

«Das Leben ist nicht fair. Ist Gerechtigkeit bloss ein Traum?»

idea Spektrum, 2010-40

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