"Eine Stadt soll wissen, was Christen wollen"

Der Thuner Allianz-Präsident Marc Jost zur Entwicklung seiner «frommen Hauptstadt»

Potrait von Marc Jost

Einheit unter den Thuner Christen: Als regionaler Allianz-Präsident versteht sich EGW-Pfarrer Marc Jost stark als Brückenbauer.

30 christliche Gemeinschaften in der Evangelischen Allianz vereinigt. 3000 Menschen versammeln sich jeden Sonntag in ihren Gottesdiensten. Thun gilt als besonders fromme Stadt. Hier werde wohl mehr gebetet als anderswo, räumt der regionale Allianz-Präsident Marc Jost ein. Und in Thun wird ein frivoles Jesus-Musical zur Chance gemacht.

«Spektrum»: Wann haben Sie im Thuner Alltag das letzte Gespräch über Jesus geführt?
Marc Jost: Das war Mitte Juli anlässlich der Premiere des Musicals «Jesus Christ Superstar». Da fragte mich der Chefredaktor des «Thuner Tagblatts», ob dieses Musical wirklich gotteslästerlich sei. Ich solle doch einen Gastkommentar dazu schreiben. So konnte ich meine Einschätzung über das Musical und über Jesus äussern, zuerst mündlich, dann schriftlich.

Und Ihre Einschätzung?
Ich sagte, Jesus werde im Musical teils gut dargestellt, doch die Frage werde zu wenig klar beantwortet, ob Jesus nur Mensch oder eben doch Gottes Sohn war. Wer ist Jesus? Das ist die entscheidende Frage. Damit muss sich jeder Mensch auseinandersetzen.

Was löst das Jesus-Musical in Thun aus?
Das Musical wird innerhalb der christlichen Gemeinde kontroverser diskutiert, als ich erwartet habe. Wer über die Hintergründe des Musicals Bescheid weiss, ist weniger negativ überrascht als derjenige, der ahnungslos hingeht und meint, hier werde das Evangelium im Massstab eins zu eins verkündigt. Das Musical hat immerhin bewirkt, dass ich als Präsident der Allianz von sieben Journalisten angefragt wurde, was gläubige Christen dazu meinen. Für die Medien war es reizvoll zu erfahren, wie das Musical gerade hier, in einer Stadt mit vielen frommen Christen, aufgenommen wird.

Ein umstrittenes Musical als Chance für Thun?
Es wird vor allem dann zur Chance, wenn einzelne Christen mit ihren Freunden hingehen und über Jesus ins Gespräch kommen. Und Jesus wurde durch dieses Musical öffentlich zum Thema.

Thun sei eine Art fromme Hauptstadt der Schweiz, wird der Berner Religionswissenschafter Stefan Rademacher in der Presse zitiert. Wie wurde die Stadt Thun so fromm?
Das hängt zum einen mit der Geschichte zusammen. Anfangs 19. Jahrhundert waren in dieser Gegend viele Erweckungsprediger unterwegs. Daraus sind einige Erneuerungsbewegungen entstanden. Zu ihnen zählen auch heute aktive Gemeinschaften und Freikirchen wie die FEG, das EGW, die FMG oder die Gemeinde für Christus, früher Brüderverein. Im Laufe der Zeit wurden sie ergänzt und verstärkt durch neue Bewegungen wie die Pfingstler, Charismatiker, Hauskirchen, Gebetsbewegungen oder die Sportlerbewegung. Und der zweite Faktor: Die alten und die neuen Bewegungen haben zusammengefunden. Über die Gräben hinweg wurden Brücken gebaut.

Woran zeigt es sich, dass Thun eine sehr fromme Stadt ist?
Offensichtlich ist die Vielfalt von christlichen Gemeinschaften und Werken. Es sind insgesamt 30, die heute zur Evangelischen Allianz gehören. In Thun haben sich auch verschiedene christliche Hilfswerke niedergelassen wie HMK (Hilfe für Mensch und Kirche), SrS/Pro Sportler, die Schule für Heilung oder die 24/7-Gebetsbewegung.

Folglich gibt es in Thun weniger Scheidungen und weniger Verbrechen?
Ich hoffe es! Doch von konkreten Zahlen weiss ich nichts. Dieser Frage müsste man nachgehen!

Wird in Thun mehr gebetet als anderswo?
Das kann ich mir gut vorstellen. Dazu gibt es verschiedenste Allianz-Angebote, und ich denke nicht zuletzt auch an das 24/7-Gebet oder die ganze Gebetsbewegung von Walter Bernhard.

Wie profitiert Ihre Region von der starken Heilungsbewegung in Thun?
Spezielle Heilungsgottesdienste bieten unter anderem der Verein Lazarus oder die Schule für Heilung an. In diesen Gefässen kommen immer wieder Spontanheilungen vor. Aber letztlich geht es da um das ganzheitliche Heilwerden des Menschen. Die Region wurde dafür sensibilisiert.

Wie hat sich das fromme Thun in den letzten zehn Jahren entwickelt?
Vor 15 Jahren gab es hier tiefe Gräben zwischen charismatischen und traditionellen evangelikalen Freikirchen, auch im Zusammenhang mit dem Toronto-Segen. Vor etwa zehn Jahren begann man vermehrt aufeinander zuzugehen und sich zu versöhnen. Als ich vor vier Jahren Allianz-Präsident wurde, hatten sich die Beziehungen unter den Leitern schon sehr positiv entwickelt. Ich bin eher der Vermittlertyp. Als eine Art Katalysator habe ich die Beziehungen weiter gefördert. So konnten wir dann auch grosse gemeinsame Projekte starten, bei denen die einzelnen Gemeinden in den ganzen Leib eingebunden wurden.

An welche Projekte denken Sie?
Schon drei Mal haben wir diakonische Stadtwochen durchgeführt, es gab «ProChrist» als evangelistischer Grossanlass und weitere gemeinsame Initiativen, wie gemeinsame Gästegottesdienste begleitet von öffentlichen Kampagnen.

Wie stark wuchs die Zahl der Christen?
Tendenziell wachsen vor allem die jüngeren Bewegungen. Doch es gibt auch traditionelle Gemeinden wie die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (EFG) oder die BewegungPlus, die ein deutliches Wachstum verzeichnen. Zudem gibt es neue Gemeinden wie ICF oder Vineyard.

Wie stark ist angesichts der grossen Konkurrenz der Transfer von Gemeinde zu Gemeinde?
Diesen Transfer können wir nicht verhindern, doch er ist nicht intensiv. Wenn jemand die Gemeinde wechseln will, nehmen wir unter den Pastoren Kontakt auf, um die Situation zu klären.

Profitieren auch die Landeskirchen von der positiven Entwicklung?
Die Landeskirchen empfinden uns wahrscheinlich als gesunde Konkurrenz, die sie herausfordert, am eigenen Profil zu arbeiten. Auch hier werden Gräben aus der Vergangenheit zugeschüttet. Vor etwa zwei Jahren begann ein Gesprächskreis mit der Allianz und der Ökumene. Daraus wurde eine Weiterbildungsveranstaltung darüber, in welchem religionssoziologischen Umfeld Landeskirchen und Freikirchen tätig sind. Das ist momentan für die verschiedenen Kirchen der kleinste gemeinsame Nenner. Wir haben die Landeskirchen provoziert, darüber nachzudenken, wie sie die Leute besser erreichen können und damit eigentlich wieder missionarisch zu denken.

Was bedeuten die vielen Christen für das politische Leben?
In vielen öffentlichen Gremien sitzen Christen. Es gibt in Thun auch viele christliche Geschäftsleute. Im Wahlkreis Thun sind 4 von 15 Grossräten evangelikale Christen (2 EVP, 1 EDU, 1 SP). Im Stadtparlament gibt es Christen aus mehreren Parteien.

Was ist Ihnen als Allianz-Präsident bisher nicht gelungen?
Es gibt noch keine regelmässigen Retraiten für die Leiter. Wir machen jetzt dann einen neuen Versuch aus der Überzeugung heraus, dass die Beziehungen unter den Leitern einer der Schlüssel sind für eine funktionierende Allianz. Noch herrscht auch zu stark ein Denken vor, das sich auf die eigene Gemeinde bezieht. Die junge Generation denkt schon viel mehr in die Richtung, dass sie sich als Teil des gesamten Leibes Jesus vor Ort sieht.

Mit welchen Widerständen sieht sich Ihre Allianz besonders konfrontiert?
Eine ganz aktuelle Herausforderung sind sektenartige Gruppierungen, die mit Leuten aus unseren Gemeinden in Berührung kommen und sie verwirren und teils auch vereinnahmen. Dann denke ich an die verbreitete Tendenz zur Tabuisierung alles Religiösen. Der persönliche Glaube wird immer mehr zum Tabu erklärt. Bei unsern Werbeaktionen kam schon der Vorwurf auf, Religion dürfe nicht vermarktet werden. Doch unser Anliegen muss es sein, dass Gott zum Thema wird. Immer wieder hängt man uns auch die Etikette an, wir seien «extreme Evangelikale». Man kommt mit der Fundamentalismus-Keule und will die ganze Kommunikation verunmöglichen.

Wie begegnen Sie dieser «Keule»?
Indem ich jede Gelegenheit nutze, um gegenüber Medien oder im persönlichen Gespräch zu erklären, wer wir wirklich sind und was wir glauben.

Welchen Praktiken oder Lehren geht Ihre Allianz bewusst aus dem Weg?
Wir sind heute in der Thuner Allianz fast soweit, dass wir alles thematisieren können. Tatsache ist natürlich, dass ein Heilungsgottesdienst nicht das gleiche Spektrum von Leuten anzieht wie ein Sportlergottesdienst oder ein Strasseneinsatz. Wir haben keinen Ehrenkodex für die Praxis, aber die verantwortlichen Leiter haben das «Gspüri», was man gemeinsam praktizieren kann und was nicht, wie zum Beispiel den Zungengesang.

Laut Ihrer Homepage strömen jeden Sonntag 3000 Gläubige in Ihre Gottesdienste. Welche Gottesdienste sind im Trend?
Es gibt zwei Trends: Grossveranstaltungen und Hausversammlungen. Beides entspricht offensichtlich einem Bedürfnis. Man möchte mit vielen Leuten Gott feiern, und man möchte in kleinen Gruppen über den Glauben im Alltag reden. Ideal ist, wenn eine Gemeinschaft beides miteinander verbinden kann.

Was spricht noch für die traditionelle Gemeinde?
Sie kennt die Geschichte am Ort und hat ein bestehendes Beziehungsgeflecht, auch zu den Institutionen. Dazu kommt eine Art Verlässlichkeit: Hier weiss ich, woran ich in Bezug auf Lehre und Strukturen bin.

Was könnten andere örtliche Allianzen von Thun lernen?
Erstens: Wenn Gott begabte Leute an einen Ort stellt, muss eine Allianz bemüht sein, solche Leute nicht zu bremsen, sondern zur Entfaltung zu bringen. Zweitens: Es ist wichtig, Beziehungen über die Gemeindegrenzen hinaus zu pflegen und wo nötig auch Versöhnung zu suchen. Drittens: Wir müssen den Mut haben, die Öffentlichkeit immer wieder über unser eigenes Engagement zu informieren. Eine Stadt soll wissen, was Christen wollen und tun.

Wovon träumt der Thuner Allianz-Präsident?
Ich träume von einem professionellen sozial-diakonischen Netzwerk, das christliche Initiativen und Projekte koordiniert und fördert. Dazu von der Fortsetzung unserer evangelistischen Arbeit auf verschiedenen Ebenen: als Grossanlass und im Quartier. Wir wollen unsern Fokus noch vermehrt auf unsere überblickbaren Lebensräume legen und dort als Christ im Alltag wirken.

Wie kann die Kirche in der Schweiz nachhaltig wachsen?
Indem der einzelne Christ seine Berufung von Gott erkennt und wahrnimmt und diese Berufung für andere Menschen einladend und glaubwürdig lebt.

Interview: ANDREA VONLANTHEN

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