Warum hast du mich verlassen?

In schwierigen Situationen des Leidens liegt manchen Menschen die „Warum-Frage“ auf der Zunge. Sind wir uns bewusst, dass diese Frage ein Gebet ist und deshalb sicher nicht das Falscheste in einer notvollen Lebenslage?
Als Jesus Christus vor rund 2000 Jahren brutal am Kreuz hingerichtet wurde und lange leiden musste, stellte er ebendiese Frage: Warum? Oder genauer: Er betete aus dem Psalm 22, wo es heisst: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wer „warum?“ fragt, hat eine Gottesbeziehung, sonst würde er Gott nicht fragen, sondern könnte nur über die verzweifelte Lage fluchen. Aber die Hinwendung zu Gott mit dieser Frage ist ein guter Reflex.
Es ist jedoch selten so, dass darauf die Frage auch gleich beantwortet würde. Ja, das bleibt wahrscheinlich eher die Ausnahme. Viel entscheidender scheint mir, dass Gott auf die verzweifelte Frage immer mit seiner Gegenwart, mit seiner Nähe antwortet. Das hat auch der Schreiber von Psalm 22 so erlebt; König David.
Nachdem er Gott all seinen Kummer klagt, folgt die Wende in seinem Herzen, und er findet zum Loben zurück, weil er sich an all das erinnert, was Gott Gutes für ihn getan hat und was Gott ihm verheissen hat. Er ist überzeugt, dass Gott trotz allem treu bleibt: „Deine Treue preise ich in der grossen Gemeinde!“
Wir können annehmen, dass auch Jesus am Kreuz den ganzen Psalm gebetet hat. Auch er hat dem himmlischen Vater die „Warum-Frage“ gestellt. In der Not war er verzweifelt wie wir alle, wenn tiefes Leid über uns kommt. Dann aber wird sich auch Jesus am Kreuz an Gottes Treue und Macht erinnert haben, wenn er im Psalm fortgefahren ist: „Denn der Herr regiert als König; er herrscht über die Völker.“ Und noch viel mehr als Gottes Macht, ist Gottes Nähe im Leiden gewiss: „Er verbirgt sein Gesicht nicht vor mir; er hat auf mein Schreien gehört.“
Jesus Christus kennt nicht nur die Not, die mich vielleicht gerade plagt. Er teilt sie auch mit mir. Karfreitag soll uns daran erinnern, dass Gott im Leiden mit uns Gemeinschaft hat und uns schliesslich daraus erlösen will.
erschienen im Berner Oberländer vom 5. April 2012

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